Wir sind der chirurgische Nachwuchs

Herausforderungen der Ausbildung zum Einsatzchirurgen

T. Sopper , C. Hanne , V. Schreiner

Medizinische Ausbildung von Sanitätsoffizieranwärtern
Niels Huschitt

„Zwei Dinge pflegen den Fortschritt der Medizin aufzuhalten: Autorität und System.“ – selbst über hundert Jahre nach dem Tod Virchows beeinflussen diese seine Worte die Kreativität und Inspiration der medizinischen Gesellschaft. In eben diese vielseitige Landschaft der Medizin reiht sich auch die Bundeswehr mit mehr als 3 000 Sanitätsoffizieren ein. Dabei sind dem Spektrum für die Verwendung der ÄrztInnen beim „Bund“ nahezu keine Grenzen gesetzt. Neben klassischen FachärztInnen, benötigt die Bundeswehr auch Schiffs-, Taucher-, Truppen- und FliegerärztInnen. Eine besondere Rolle spielen dabei die EinsatzchirurgInnen. Es gibt wohl keinen mit der Bundeswehr stärker assoziierten ärztlichen Bereich als den, der die operative Versorgung der ballistischen und explosiven Traumata übernimmt – die Einsatzchirurgie. Wie sieht aber der Weg zu diesem Tätigkeitsschwerpunkt aus? Wie kompatibel ist die Ausbildung des chirurgischen Nachwuchses mit den Worten Virchows und der modernen Medizin?

Situation im Studium

 Die Reise angehender EinsatzchirurgInnen beginnt wie die eines jeden Soldaten mit der Allgemeinen Grundausbildung (AGA). In diesen drei Monaten lernen sie die Basics mit Abläufen und Strukturen der Streitkräfte, werden an den Alltag in Uniform herangeführt und spüren, was Kameradschaft bedeutet. Außerdem wird festgelegt, in welcher Stadt die SanitätsoffizieranwärterInnen (SanOA) nach der AGA das Medizinstudium absolvieren dürfen. Hier wird man bereits das erste Mal mit einem System der Bundeswehr konfrontiert: Ranglisten. Unser Dienstherr lässt hier genormte Kriterien über die individuelle Zukunft entscheiden. Dies sind unter anderem die Abiturnote, Aufsätze, Gruppengesprächssituationen, verschiedene PC-gestützte Tests zu Intelligenz und Persönlichkeit sowie Sporttests.

In den folgenden 13 Semestern studieren die angehenden Militärärzte an ca. 35 verschiedenen Medizinischen Fakultäten in Deutschland gemeinsam mit rund 105 000 anderen StudentInnen. Auch wenn nach erfolgreicher Absolvierung der Ausbildung die ärztliche Approbation erhalten, liegen inhaltlichen Schwerpunkte an den verschiedenen Fakultäten zum Teil weit auseinander und die Einsatzchirurgie befindet sich dabei nicht unbedingt im Fokus. Hinzu kommt, dass die Bundeswehr selbst für die Dauer unseres Studiums kaum Einblicke in die Einsatzmedizin und chirurgie ermöglichen kann. Auch anderweitige Förderungen wie Promotionsmöglichkeiten oder angebote sieht der Dienstherr nicht vor. In Praktika und Famulaturen sammeln die SanOA Erfahrungen in den Bundeswehrkrankenhäusern, wo sie mit dem Themengebiet „Einsatz“ nur marginal in Kontakt treten. Daraus ergibt sich für zukünftige Einsatzchirurgen eine herausfordernde Situation. Dieses bestehende System zeigt eine Position der Asymmetrie zwischen dem, was gefordert und dem, was während des Studiums vermittelt wird.

Credit Point System

Doch was reizt angehende Ärzte, diesen Weg einzuschlagen und sich gegebenenfalls zu EinsatzchirurgInnen ausbilden zu lassen? „Gegebenenfalls“, da die auf Ranglisten beruhende Vergabe der Ausbildungsplätze nur bedingt in den eigenen Händen liegt. Diese Priorisierung ist Teil des Credit Point Systems, kurz CPS. Eine umfassende Erklärung sprengt den Rahmen dieses Erfahrungsberichtes, daher soll es nur kurz skizziert werden. Innerhalb der 13 Semester des Studiums werden Punkte durch verschieden Nachweise, z. B. der Individuellen Grundfertigkeiten und der Körperlichen Leistungsfähigkeit sowie durch Absolvierung von Truppenpraktika gesammelt. Außerdem werden universitäre Leistungen, beispielsweise Zusatzfamulaturen und wahlfächer sowie Noten der zwei schriftlichen Examina, bewertet. Sofern in diesem Zeitraum ein leistungsbedingter Studienverzug zustande kommt, resultiert dieser in einem Punktedefizit, das durch außerordentliche Zusatzleistungen kaum aufgeholt werden kann. Punktgewinn und abzug stehen in keinem fairen Verhältnis. Somit sind SanOA mit Zusatzsemestern kaum innerhalb der Rangliste konkurrenzfähig und ihnen sind massive Grenzen in der Karrieregestaltung gesetzt.

Einsatzchirurgie

Um der stetig an Komplexität zunehmenden Medizin und den daraus resultierenden Ansprüchen gerecht zu werden, müssen sich besonders ChirurgInnen oft subspezialisieren. So scheint es, dass das Konzept der Einsatzchirurgie wie ein Relikt aus alter Zeit verbleibt. Doch was sich schnell als Dinosaurier der Geschichte einordnen lässt, ist ziemlich vergleichbar mit einem Schweizer Taschenmesser. Während die spezialisierten Instrumente teilweise überlegen erscheinen, so ist der „Allrounder“ in vielen Situationen breit aufgestellt. 

Die Einsatzchirurgie bedeutet vor allem: Vielfalt, Improvisation, Tatendrang und ein weiter Horizont. Letzterer regt an, außerhalb der konventionellen Leit- und Richtlinien nach Lösungen zu suchen und abseits des Stroms der modernen Medizin zu schwimmen. Dabei arretiert der Blick auf die Gesamtheit der Chirurgie.

Die zukünftig auf diesem Gebiet tätigen Mediziner wollen alle Bereiche kennenlernen und Kenntnisse gegebenenfalls später vertiefen. Einfacher gesagt als getan – einen Plan für die eigene Zukunft zu formulieren, fällt merklich schwer. Das Schicksal der SanOA hängt von der eigenen Entscheidung und natürlich vom Ranglistensystem ab. Das Produkt daraus hat Auswirkungen weit in der Zukunft. Diese können die eigene Familienplanung und Ausgestaltung in einem Maß beeinflussen, das aus der aktuellen Perspektive kaum realistisch bewerten werden kann. Hier birgt das Konzept der Einsatzchirurgie im Hinblick auf Flexibilität und Karrierevorstellungen für einige ein Risiko. Sollte man sich als Soldat auf Zeit für das Ausscheiden aus der Bundeswehr entscheiden, könnte es zu Diskrepanzen kommen. Bei weitem nicht jeder angehende Sanitätsoffizier plant, das gesamtes Berufsleben bei der Bundeswehr zu verbringen. Über die Gründe lässt sich eine separate Abhandlung schreiben, jedoch bietet das Konzept der Einsatzchirurgie in dem Fall durchaus folgenden Nachteil in der weiterführenden Arbeitswelt. 

Sei es aus familiären Gründen, aus Motiven der beruflichen Freiheit oder um den etwas rigiden Strukturen zu entkommen: wer weitaus mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens darauf verwendet hat, die Zusatzbezeichnung und Skills eines Einsatzchirurgen zu erlangen, der kann sicherlich zum Teil mit einem holprigen Übergang in das zivile Leben rechnen. Denn zuweilen werden weitaus nicht alle erarbeiteten Kompetenzen gewürdigt.

Fazit

Zusammenfassend ist das Konzept der Einsatzchirurgie ein spannendes, faszinierendes und einzigartiges Feld. Es steht jedoch im Kontrast überall da, wo dieses System den realen Umständen der modernen Medizin gegenübersteht. 

Wer die Einsatzchirurgie fördern möchte, der muss auch seine Wettbewerbsfähigkeit garantieren können, sowohl in der fachlichen als auch alltäglichen Realität der Sanitätsoffiziere. Ist dies gegeben, kann der Ausbildungszweig Einsatzchirurgie als Alleinstellungsmerkmal der Bundeswehr sogar die Attraktivität des Sanitätsdienstes für junge MedizinerInnen steigern, die voller Leidenschaft sind für moderne, taktische und operative Verwundetenversorgung.



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