Notfall- und Katastrophenpharmazie: Ein vernachlässigter Aspekt für ­Arzneimittelspezialisten?

Aus dem Versorgungs- und Instandsetzungszentrum Sanitätsmaterial Quakenbrück (Leiter: Flotten­apotheker W. Fellmann)

Einleitung

Der 11. September 2001 wie auch viele nachfolgende Ereignisse in jüngster Vergangenheit haben gezeigt, wie angreifbar unsere Gesellschaft auch nach dem Ende des Kalten Krieges und unabhängig vom Verteidigungsfall gegenüber modernen Bedrohungslagen ist. Hierbei spielen auch sich häufende Naturkatastrophen in aller Welt eine immer bedeutsamere Rolle. Die Versorgung der Bevölkerung sowie von zivilen wie auch militärischen Einsatzkräften mit Arzneimitteln ist eine essentielle Aufgabe der Pharmazie – auch unter schwierigen Bedingungen.

Eine wichtige Komponente der Pharmazie

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Warum muss eine Auseinandersetzung des Apothekerberufes mit der Katastrophenpharmazie erfolgen? Die Vulnerabilität der Gesellschaft und ihrer kritischen Infrastrukturen geraten durch Unwetterkatastrophen und potentielle terroristische Angriffe immer mehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. 

Der sog. Gesundheitliche Bevölkerungsschutz dient mit vorbeugenden Maßnahmen der bestmöglichen gesundheitlichen Versorgung in Notfallsituationen, insbesondere bei Großschadensereignissen, Katastrophen und bedroh­lichen (Infektions-) Krankheiten. In die me­di­zi­nisch-­­personelle Hilfeleistung sind sämtliche Versorgungssektoren eingebunden; dazu gehören auch die Heilberufe.

Die Rolle der Pharmazie und ihres öffentlichen Versorgungsauftrages bei der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der gesundheitlichen Versorgung haben jedoch bislang nur einen vernachlässigten Stellenwert in der öffentlichen und auch fachlichen Wahrnehmung erhalten.

Das interdisziplinäre Aufgabengebiet, das man unter dem Begriff der Notfall- und Katastrophenpharmazie summiert, betrifft sämtliche Facetten der pharmazeutischen Disziplin. Es gibt vielerlei Berührungspunkte mit der Medizin und auch der Logistik für Sanitätsmaterial. Darunter fallen die medizinische Versorgung bei Großschadenslagen, die Sanitätsmaterial-Bevor­ra­tung und Vorsorgeplanung sowie konzeptionelle Vorgaben für Krankenhausalarmplanungen oder Krankenhausalarmpläne, aber auch die medizinische Vorsorgeplanung für großflächige und/oder national bedeutsame CBRN-Gefahren (che­misch/biologisch/radiologisch/nuklear). Neben den Standards für Organisation, Einsatzplanung und -taktik, Logistik, Qualitätsmanagement, personelle und materielle Ausstattung im medizinischen Bevölkerungsschutz sind auch die Internationale und Entwicklungshilfe von Belang.

Gesetzliche Grundlagen

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Stabsapotheker Dr. Vongehr und Stabsapotheker d. R. Kappus bei der Überprüfung von Sanitätsmaterial, mit dem auch zivile Behörden im Notfall unterstützt werden können. (Abb.: Bundeswehrapotheke Quakenbrück)
Die Arzneimittelversorgung ist eine an Approbationsinhaber staatlich delegierte Aufgabe und somit als ein hoheitlicher Auftrag aufzufassen. In mehreren für die pharmazeutische Praxis essentiellen Gesetzen sind entsprechende Passagen enthalten. Es sind dies das Arzneimittelgesetz (AMG), die Bundes-Apothekerordnung (BApO) und das Apothekengesetz (ApoG). An prominenter Stelle der jeweiligen Gesetze wird die besondere Verantwortung des Apothekers bei der im öffentlichen Interesse gebotenen Sicherstellung der ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung hervorgehoben. Der Gesetzgeber unterscheidet explizit nicht zwischen einem Normal- oder Katastrophenbetrieb, der Versorgungsauftrag gilt uneingeschränkt auch in Not- und Katastrophenfällen. Apotheker haben die gesetzliche Aufgabe, die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen – auch und besonders in Krisenzeiten. 

Besonders im Bereich des Zivilschutzes und des Katastrophenschutzes – die man beide inzwischen unter dem Begriff Bevölkerungsschutz zusammenfasst – sind mehrere gesetzliche Grundlagen für die Notfall- und Katastrophenpharmazie zu finden. Das Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz, ZSKG) stellt fest, dass zum Zivilschutz insbesondere Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit gehören und dass die gesetzlichen Berufsvertretungen der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker bei der Planung und Bedarfsermittlung mitzuwirken und die Behörden zu unterstützen haben.

Im Bereich der Länder ist die Ausgestaltung der Gesetze indes sehr heterogen, da der Katastrophenschutz Ländersache ist und die jeweiligen Katastrophenschutzgesetze (KatSG) voneinander abweichen. Doch auch hier wird die Mitwirkung der Apotheker und ihrer Standesvertretungen im Katastrophenschutz geregelt. Es sind zum Teil klare Forderungen des Gesetzgebers enthalten, um die Apotheker bzw. die Apothekerkammern in den Katastrophenschutz der Länder einzubinden. So wird beispielsweise im KatSG von Mecklenburg-Vorpommern unmissverständlich formuliert, dass die Apothekerkammer für Fortbildungen im Bereich der Katastrophenpharmazie zu sorgen hat. Hessen und Rheinland-Pfalz fordern die Beteiligung der Apotheker an Einsätzen, Übungen und Lehrgängen im Katastrophenschutz. 

Auch wenn Unterschiede bei der Einbeziehung der Apotheker in die Rettungsdienst – und Katastrophenschutzgesetze der Bundesländer existieren, erfolgt die Umsetzung der gesetz­lichen Vorgaben – wenn überhaupt – nur rudimentär. Den gesetzlichen Verpflichtungen wird bislang nur mit unzureichenden Aktivitäten nachgekommen; weder von Behördenseite noch durch die Berufsvertretungen sind genauere Konzepte erstellt worden. Hauptursachen dafür sind ein relativ hohes Sicherheitsgefühl, eine fehlende Einbindung der Pharmazie in die Notfallvorsorge sowie unzureichende Kenntnisse zum pharmazeutischen Notfallmanagement.

Es lässt sich konstatieren, dass Apotheker bislang nur unzureichend aus- und fortgebildet sind für ein Notfall- und Krisenmanagement zur Aufrechterhaltung der Versorgung der Be­völkerung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten entsprechend den gesetzlichen Forderungen. 

„Wer sich selbst helfen kann, reagiert im Ernstfall gelassener und entlastet die Rettungskräfte.“

Das im Sommer 2016 herausgegebene neue Zivilschutzkonzept des Bundes (Konzeption Zivile Verteidigung, KZV) enthält ebenfalls Hinweise auf die pharmazeutische Versorgung. Dieses ist zwar von manchen Medien in Verruf gebracht worden mit flamboyanten Kommentaren („Bund rät zu Hamsterkäufen“), enthält aber wichtige Hinweise für die Bevölkerung, am Bevölkerungsschutz im Rahmen der Eigenvorsorge mitzuwirken. Wer sich als Bürger selbst helfen kann, reagiert im Ernstfall gelassener und entlastet die Rettungskräfte. Zu den Vorsorgemaßnahmen gehört nicht nur eine Bevorratung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, sondern auch mit Arzneimitteln. Aufgabe der Apotheker ist es folglich, Patienten in die Lage zu versetzen, sich selbst helfen zu können mit einer individuell zusammengestellten Hausapotheke, die besonders auch regelmäßig benötigte rezeptpflichtige Arzneimittel enthält. Ein Vorrat von mindestens zwei Wochen kann besonders Patienten mit Dauermedikation in eine gewisse Unabhängigkeit versetzen, sollte das Gesundheitswesen in der Leistungsfähigkeit vorübergehend eingeschränkt sein oder der Patient die Apotheke nicht erreichen können.

Die „ Konzeption Zivile Verteidigung“ beruft sich bei der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung auf die Apothekenbetriebsordnung und geht von einer gesicherten Versorgung für einen zweiwöchigen Zeitraum aus. § 15 der Apothekenbetriebsordnung schreibt einen einwöchigen für öffentliche, respektive § 30 für krankenhausversorgende Apotheken einen zweiwöchigen Vorrat der wichtigsten Präparate vor. Gerade im Bereich der öffentlichen Apotheken ist dieser Vorrat indes nur bedingt zu unterstellen, da inzwischen Abrechnungsmodalitäten wie Rabattverträge in das Warenlager eingreifen und eine enge Taktung der Belieferung durch den pharmazeutischen Großhandel sowie wirtschaftliche Zwänge eine größere Bevorratung unattraktiv werden lassen.

Sinnvollerweise fordert die Konzeption Zivile Verteidigung (KZV) aber: „Die Bevölkerung soll durch geeignete Maßnahmen angehalten werden, für den Eigenbedarf vorzusorgen (Hausapotheke, Vorrat an regelmäßig benötigten Medikamenten).“

Diese „geeigneten Maßnahmen“ fallen zweifelsohne in das originäre Aufgabengebiet der Apotheker. Bereits 2014 hat die AG KatPharm der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) ein Flugblatt herausgegeben zu einer sinnvollen Bevorratung der Hausapotheke. Dieses wird von öffentlichen Apotheken zur Auslage in der Offizin angefordert, wo eine hohe Kundenfrequenz der Verbreitung dient und vor allem eine persönliche, individuelle Beratung stattfinden kann. Das Formular ist zugleich online verfügbar und Bürgern so auch direkt zugänglich. Für die vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe herausgegebene Broschüre „Für den Notfall vorgesorgt“ hat die AG KatPharm ebenfalls eine Aktualisierung der pharmazeutischen Passagen verfasst.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hat bereits 2009 gemeinsam mit 43 Experten der Katastrophenpharmazie ein zweibändiges Fachbuch zur KatPharm erstellt, das auch heute noch als Standardwerk herangezogen werden kann. Band I vermittelt Strukturen im Bevölkerungsschutz und Grundlagen der medizinischen Notfallversorgung, Band II behandelt die Aufgaben im pharmazeutischen Notfallmanagement sowie unter anderem Handlungsanweisungen für das Pandemie-­Management der Apotheken.

Das Bewusstsein für die Mitwirkung der Pharmazie beim gesundheitlichen Bevölkerungsschutz ist bislang jedoch noch wenig ausgeprägt. Betroffen ist auch die berufliche Ausbildung der Apotheker. Auch wenn gemäß der Approbationsordnung für Apotheker im Rahmen des berufsbegleitenden Unterrichtes „Allgemeine Maßnahmen bei Unfällen und Vergiftungen (Erste Hilfe)“ gelehrt werden sollen, ist ein obligatorischer Erste-Hilfe-Kurs im Rahmen des Pharmaziestudiums nicht geregelt. Der Apotheker muss somit bislang – im Gegensatz zum sonstigen pharmazeutischen Fachpersonal – während seiner Ausbildung keinen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren. Hingegen ist es in nahezu allen anderen Gesundheitsberufen wie auch dem Medizinstudium verpflichtend, einen solchen Lehrgang zu absolvieren. Der Bundesverband der Pharmaziestudierenden e. V. hat sich bereits für eine verpflichtende Durchführung solcher Kurse ausgesprochen.

Im Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr ist jedoch mit dem jährlich stattfindenden Lehrgang „Erste Hilfe für Sanitätsstabsoffiziere Apotheker“ eine Besonderheit vorhanden.

DPhG AG KatPharm

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Um die vernachlässigten Aufgaben aufzuarbeiten und das Bewusstsein zu schärfen wurde von der DPhG 2014 die Arbeitsgemeinschaft Notfall- und Katastrophenpharmazie eingerichtet. Die bislang vorhandenen Aktivitäten auf dem Gebiet der Notfall- und Katastrophenpharmazie sollen so gebündelt und in ein Netzwerk eingebracht werden. 

In der Arbeitsgemeinschaft mit inzwischen 80 Mitgliedern engagieren sich Pharmaziestudierende und Apotheker aus allen Bereichen der Pharmazie. Das Netzwerk rekrutiert sich u. a. aus Angehörigen der Kammern, der Hochschule, den Krankenhäusern, der pharmazeutischen Industrie, Inhabern und Angestellten öffentlicher Apotheken, sowie mehreren Wehrpharmazeuten als Vertretern des Sanitätsdienstes der Bundeswehr.

Regelmäßige Telefonkonferenzen und jährliche Arbeitsgruppensitzungen ermöglichen einen Austausch mit aktuellem Bezug und zu Projekten, daneben dienen Fortbildungsveranstaltungen der Verbreitung der Thematik in der Fachöffentlichkeit. 

Unter anderem hat die Arbeitsgemeinschaft ein Curriculum zur Einbindung der KatPharm in das Studium erstellt und jüngst eine Publikation zum Thema „Stromausfall in der Apotheke“ lanciert. Ziel ist es, bereits Studierende für die Notfall- und Katastrophenpharmazie zu sensibilisieren. Neben den grundsätzlichen Fragestellungen auf Länder- und Bundesebene sind es gerade die öffentlichen Apotheken, die ein flächendeckender Bestandteil des gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes sind. Doch auch hier können Hochwasser oder Stromausfall empfindliche Störungen des Versorgungsauftrages hervorrufen, weshalb Vorsorgemaßnahmen obligatorisch sind. Aus dem Kreise der AG entsteht aus diesem Grunde eine Diplomarbeit: „Etablierung eines Risikomanagements nach DIN EN ISO 9001:2015 in der Öffentlichen Apotheke“ an der Universität Halle.

Mitglieder der AG KatPharm und hochrangige Vertreter der Wehrpharmazie engagieren sich ferner in der Sektion „Military and Emergency Pharmacy“ der „Fédération Internationale Pharmaceutique“ (FIP) als internationaler Fachgemeinschaft und sind unter anderem beteiligt an Publikationen wie den „Responding to disasters: Guidelines for pharmacy“. 

Fazit

Apotheker benötigen spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten, um die Arzneimittelversorgung in Krisenzeiten sicherzustellen. Zur Wahrnehmung der bislang unterrepräsentierten Aspekte der Notfall- und Katastrophenpharmazie wurde 2014 eine Arbeitsgemeinschaft gegründet. Dazu gehören etwa die Einbindung der KatPharm in die pharmazeutische Ausbildung und die Stellungnahme zu aktuellen Fragestellungen. Das Netzwerk der AG erstellt wissenschaftliche Studien und sorgt durch Engagement auf berufspolitischer Ebene für eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit, der Fachöffentlichkeit und von Standesvertretern. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr ist mit namhaften Vertretern an den weiteren Planungen beteiligt. 


Anschrift des Verfassers:

Oberstabsapotheker Dr. rer. nat Frederik Vongehr
VersInstZ SanMat Quakenbrück
Ostlandstraße 26
49610 Quakenbrück

E-Mail: frederikvongehr@bundeswehr.org

Datum: 07.11.2017

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3/2017

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