Volanti subvenimus

Interview mit Oberstarzt Prof. Dr. Rafael Schick

Im Sommer dieses Jahres hat Oberstarzt Prof. Dr. Rafael Schick die Aufgaben als Generalarzt der Luftwaffe übernommen. Als Dienststellenleiter des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe ist er zuständig für den fliegerärztlichen Dienst in der Bundeswehr sowie für Lehre, Ausbildung und Forschung in den Bereichen der Luft- und Raumfahrtmedizin.

Im Gespräch mit Gertraut Assél, Verlagsleitung des Beta-Verlages und Oberstarzt Dr. Kai Schmidt, Chefredakteur der WEHRMEDIZIN UND WEHRPHARMAZIE (WM), bezieht er Stellung zur Situation und zu Zukunftsentwicklungen in seinem Aufgabenbereich.

WM: Sehr geehrter Herr Oberstarzt Prof. Dr. Schick, seit dem Jahre 2013 gibt es das Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe. Wie gliedert sich diese Dienststelle, der Sie als Generalarzt der Luftwaffe vorstehen?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Das Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin ist ein sehr komplexes Gebilde aus mehr als 70 „Organisationselementen“, und doch hat es eine sehr klare Gliederung. Alle seine operativen Aufgaben sind in drei Säulen, unseren Fachabteilungen, zusammengefasst.

In der Fachabteilung I haben wir alle Aktivitäten konzentriert, die sich mit Forschung, Erprobung, Ergonomie und Flugunfallanalyse befassen. Hier findet sich aber auch das flugphysiologische Trainingszentrum. Auch wenn die Ausbildung der fliegenden Besatzungen hier primäre Aufgabe ist, so stellen die dabei genutzten Großgeräte, Human-Zentrifuge, Höhen-Klima-Simulationskammer, Simulationsanlagen für Desorientierung und Nachtsehen, natürlich auch eine sehr interessante Forschungsinfrastruktur dar, was den Ausschlag für die Zuordnung zur Forschungsabteilung gab.

Die Fachabteilung II ist ein flugpsychologisches und flugmedizinisches Begutachtungszentrum. Hier identifizieren wir auf der Grundlage simulatorgestützter Testverfahren in einem realitätsnahen Modell der jeweiligen Ausbildung zukünftige Luftfahrzeugführer, aber auch anderes erlaubnispflichtiges militärisches Luftfahrtpersonal wie Operateure ferngesteuerter Luftfahrzeuge oder Fluglotsen. Im Bereich der klinischen Flugmedizin führen wir die Begutachtung aller Bewerber auf Verwendungsfähigkeit durch, aber auch die wiederkehrende Begutachtung der Luftfahrzeugführer und die anlassbezogene Begutachtung für das gesamte militärische Luftfahrtpersonal der Bundeswehr, wenn also beispielsweise Unfallfolgen zu bewerten sind oder chronische Störungen wie Bluthochdruck so behandelt werden können, dass die Teilnahme am Flugdienst weiterhin möglich ist. 

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Für die in beiden Bereichen in großer Menge anfallenden sensiblen Daten betreiben wir ein eigenes Informationssystem, für dessen Pflege und Weiterentwicklung wir spezielles IT-Personal beschäftigen.

In der Fachabteilung III schließlich finden alle Aktivitäten mit Bezug zum Fliegerärztlichen Dienst der Luftwaffe und der Bundeswehr insgesamt statt. Fachliche Führung, Ausbildung, Supervision, Qualitätsmanagement, Mitwirkung bei Flugsicherheitsinspizierungen des Generals Flugsicherheit in der Bundeswehr sind nur einige Stichworte für die hier gebündelten Aufgaben.

WM: Wie beschreiben Sie die Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Zu meinem Bedauern haben wir zu dieser Gesellschaft, der DGLR, bisher sehr wenig Kontakt, obwohl ich interessante Möglichkeiten durchaus sähe.

Wenn Sie jedoch die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin (DGLRM) meinen, dann sieht es ganz anders aus. In dieser Fachgesellschaft arbeiten zivile und militärische Flugmediziner traditionell sehr eng zusammen und tauschen sich in Jahrestagungen intensiv aus. Ebenso traditionell alterniert die Vorstandschaft zwischen zivil und militärisch. Die aktuell amtierende Präsidentin der DGLRM ist mit Frau Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Carla Ledderhos eine Mitarbeiterin meines Hauses.

Wie ich vermute, zielt Ihre Frage aber noch in eine ganz andere Richtung, nämlich auf unsere Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und speziell dessen Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln. Bereits in der Vergangenheit hatten wir in einzelnen Forschungsprojekten zusammengearbeitet und uns im Rahmen unserer wissenschaftlichen Fachgesellschaft, der DGLRM ausgetauscht. Seitdem die Bundesministerin der Verteidigung und der Vorstand des DLR jedoch 2014 einen Kooperationsvertrag unterzeichnet haben, steht diese Zusammenarbeit auf einer vertraglichen Grundlage. Wir haben seitdem mehrere gemeinsame Forschungsprojekte auf den Weg gebracht, planen die Errichtung eines großen Funktionsgebäudes auf dem Gelände der DLR und haben die Absicht, nach dessen Fertigstellung ab 2019 dort neben den fortbestehenden Aufgaben unserer Fachabteilungen I und II gemeinsam ein Aeromedical Center, eine luftfahrtrechtlich definierte Begutachtungseinrichtung, zu betreiben. Darüber hinaus gibt es sehr interessante Ansätze für weitere Kooperationsprojekte, wie zum Beispiel die Einrichtung eines universitären Master-Studiengangs Aero­space Medicine.

WM: Ihr truppendienstlicher Vorgesetzter ist der Inspekteur der Luftwaffe. Gleichzeitig ist der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Ihr Fachvorgesetzter. Wie leisten Sie es, beiden „Chefs“ gerecht zu werden? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit beider Organisationsbereiche?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Zunächst gleich zur letzten Frage, denn sie ist sehr einfach zu beantworten. Die Zusammenarbeit ist eng, gut und vertrauensvoll. Dies erleichtert es ungemein, zwangsläufig immer wieder entstehende Interessensunterschiede konstruktiv auszugleichen.

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Gegenüber beiden „Chefs“, den Inspekteuren, bin ich, gestützt auf die im Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin gebündelte fachliche Kompetenz, als Berater für alle Belange der Luft- und Raumfahrtmedizin und des fliegerärztlichen Dienstes tätig.

Mit dem Amtschef des Luftfahrtamtes der Bundeswehr, einer Regulierungs- und Aufsichtsbehörde, die außerhalb der Teilstreitkräften und militärischen Organisationsbereiche steht, habe ich jedoch noch einen weiteren Vorgesetzten, denn in diesem Amt nehme ich die Funktion des „Generalarztes Flugmedizin der Bundeswehr“ wahr.

WM: Sie, Herr Oberstarzt, dienten in der Vergangenheit im Luftwaffensanitätsdienst, doch waren überwiegend im Zentralen Sanitätsdienst der Bundeswehr eingesetzt. Was macht die Besonderheiten der Sanitätssoldaten in der luftwaffenblauen Uniform aus?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Das lässt sich sehr knapp mit unserem Motto beantworten: Volanti subvenimus. Wir unterstützen und helfen mit allen unseren Aktivitäten dem fliegenden Menschen, den fliegenden Besatzungen der Bundeswehr in allen drei fliegenden Teilstreitkräften.

WM: An Bord von Flugzeugen herrschen besondere Bedingungen. Wie kommen Sie diesen Besonderheiten hinsichtlich Ausbildung und Ausrüstung nach?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Die „besonderen Bedingungen“, die Sie nennen, werden in der Fliegersprache als die „9 Stresses of Flight“ bezeichnet. Höhe mit den Aspekten Unterdruck, Druckschwankungen, vermindertem Sauerstoffdruck, Kälte oder Hitze, Lärm, Vibration, Bewegungsillusionen und Desorientierung, Blendung oder fehlende Sicht und insbesondere im militärischen Bereich enorme Beschleunigungskräfte schaffen in ihrer jeweiligen Kombination eine sehr fordernde und potentiell lebensfeindlichen Umgebung.

Um hier bestehen zu können, muss man grundlegende Kenntnisse der Physiologie haben, muss „Awareness“ für die Risiken haben, muss seine jeweiligen individuellen Warnsignale und Grenzen kennen und, dort wo es möglich ist, Gegenmaßnahmen trainieren. Dem allem dient die flugphysiologische Ausbildung in unserem internationalen flugphysiologischen Trainingszentrum, die alle fliegenden Besatzungen der Bundeswehr regelmäßig wiederkehrend durchlaufen, die aber auch von internationalen Lehrgangsteilnehmern und zivilen Luftfahrtunternehmen genutzt wird.

Für die „besonderen Bedingungen“ beim Fliegen bedarf es aber auch spezifischer Schutz-ausrüstungen. In enger Zusammenarbeit mit der Wehrtechnischen Dienststelle 61, dem Testflugzentrum der Bundeswehr, erproben wir in einem derzeit in Manching dislozierten Dezernat wiederkehrend flugbezogene Ausrüstungsgegenstände wie Fliegerhelme, Flugdienstanzüge, G-Schutzanzüge, Sauerstoffmasken usw. unter ergonomischen und klimaphysiologischen Aspekten, aber auch hinsichtlich Lärm-, Vibrations-, Blend- und Verletzungsschutz.

WM: Die Luftwaffe zeichnet sich im Allgemeinen durch eine hohe Technisierung aus. Wie menschlich ist das Team Luftwaffe aus Ihrer Sicht? Was bewegt die Angehörigen im Luftwaffensanitätsdienst und von welchen Sorgen und Nöten wird Ihnen berichtet?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Die zentrale Komponente in jedem fliegenden Waffensystem ist der Mensch und wird es selbst bei weiterer Technisierung, Teilautomatisierung und Fernsteuerung bleiben. Allerdings verschieben sich die Aufgaben und damit die Anforderungen immer mehr. Das motorisch-koordinative Bedienen wird geringer, Monitoring- und insbesondere Managementaufgaben nehmen zu und die Szenarien werden immer komplexer. Diese Entwicklung müssen wir sehr aufmerksam begleiten, um sowohl unsere Auswahlkriterien als auch die präventivmedizinischen Maßnahmen kontinuierlich bedarfsgerecht aktualisieren zu können.

Sorgen und Nöte im Luftwaffensanitätsdienst bzw. im Fliegerärztlichen Dienst der Bundeswehr bestehen vorwiegend hinsichtlich der Belastung durch Einsätze, einsatzgleiche Verpflichtungen und Übungen bei stets knappen personellen Ressourcen.

WM: Wie bewerten Sie die Nachwuchssituation für den Sanitätsdienst der Luftwaffe? Wie wollen Sie den Wettbewerb um die besten Köpfe gegenüber anderen Arbeitgebern gewinnen?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Unsere Werbeargumente sind die enge Verbindung zu der Flying Community, die Vielfalt interessanter Aufgaben, die wir anzubieten haben und – möglicherweise überraschend – eine Pflicht. Jeder der in der militärischen Flugmedizin als Expertin oder Experte eine Aufgabe wahrnimmt, hat die Pflicht, die Cockpitarbeitsplätze und die besonderen Bedingungen an Bord von Luftfahrzeugen intensiv zu kennen. Diese Kenntnis erwirbt man nur durch Mitflugerfahrung, wobei diese für die Fliegerärzte in den Verbänden sogar quantifiziert und vorgeschrieben ist. Die Erfüllung einer Pflicht darf aber durchaus auch Freude bereiten.

WM: Die Luftwaffe ist seit jeher tief in die Strukturen der NATO integriert. Welche Bedeutung hat die multinationale Zusammenarbeit für den Sanitätsdienst der Luftwaffe und wie sehen Sie die Zukunft?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Ich möchte hier, um nicht zu weit auszuholen, das Beispiel des European Air Transport Command (EATC) herausgreifen. Wir sind hier gerade im Bereich des Lufttransports von Patienten auf dem besten Wege, zu einer sehr weitgehenden Integration zu kommen. Schon heute ist es möglich, einen spanischen Patienten mit einem niederländischen Luftfahrzeug und einer deutschen medizinischen Crew zu transportieren. Die Realisierung gemischter Crews schreitet voran und mehrere weitere Nationen interessieren sich für eine Beteiligung am EATC oder sind bereits dabei, sich einzubringen. Darüber hinaus beteiligen wir uns als Ressortforschungseinrichtung auch sehr regelmäßig an Forschungsprojekten und Aktivitäten der NATO Science and Technology Organisation. Ein Beispiel hierfür ist der jährlich in Ramstein stattfindende Technical Course, der im kommenden Jahr unter dem Thema „From the Ground Up“ steht.

WM: Luft- und Raumfahrtmedizin bedeutet nicht nur angewendeter fliegerärztlicher Dienst, sondern umfasst auch zu einem großen Teil Forschung und Entwicklung. Was können Sie Aktuelles aus diesen Bereichen berichten?

Oberstarzt Prof. Dr. Schick: Bewerberinnen und Bewerber für den fliegerischen Dienst untersuchen wir sehr umfassend. Zwangsläufig finden wir dabei auch immer wieder Normvarianten oder Veränderungen, die zwar im Alltagsleben keine Einschränkung bedingen, im Hinblick auf das militärische Fliegen jedoch ein Risiko darstellen können. Hier sind wir sehr stark daran interessiert, unser Wissen zu erweitern, um nicht ansonsten gut geeignete Kandidatinnen und Kandidaten zu verlieren.

Flüssigkeitsgefüllte Hohlräume im Schädelinnern, ein relativ häufiger kernspintomografischer Befund, sind ein solches Beispiel. Wenn uns mit verbesserter Methodik der Nachweis gelingt, dass es sich bei diesen Hohlräumen nicht um abgegrenzte Zysten handelt, sondern sie mit dem übrigen Hohlraumsystem Verbindung haben, dann müssen wir solche Bewerber nicht mehr als ungeeignet, weil risikobehaftet, zurückweisen.

Unter dem Dach eines Konzeptes „Human Performance Enhancement“ verfolgen wir den Ansatz, das Leistungspotential von Luftfahrzeugbesatzungen individualisiert zur vollen Entfaltung zu bringen. Die Maßnahmen dieses Konzepts bedürfen der wissenschaftlichen Evaluation, damit wir das Konzept bedarfsgerecht weiterentwickeln können.

Der flugpsychologische Anteil an Flugunfallanalysen ist immer bedeutsamer geworden, zumal er meist unmittelbar in der Flugsicherheitsarbeit nutzbare Erkenntnisse erbringt. Hier sind wir gerade dabei, die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte systematisch auszuwerten.

Fliegerische Operationen bei Nacht werden immer bedeutsamer und damit auch die Nutzung von Nachtsehhilfen. Nun verändert sich aber das Farbsehen gerade im von diesen Hilfen häufig genutzten Grünbereich in der höhenbedingten Hypoxie. Hier arbeiten wir aktuell daran, die hypoxiebedingte Veränderung des Farbsehens zu objektivieren, um Risiko- und Grenzbereiche für die Nutzung von Night Vision Devices definieren zu können.

Diese Beispiele aus unserer Forschungsaktivität mögen einen Eindruck von der Spannweite der Fragestellungen geben, denen wir uns als Ressortforschungseinrichtung der Luftwaffe und damit als anwendungsorientierter Dienstleister, zu widmen haben.

WM: Herr Oberstarzt, wir bedanken uns recht herzlich für dieses Interview und wünschen Ihnen für das weitere Wirken alles erdenklich Gute.

Datum: 23.12.2015

Quelle: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2015/4

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