DREI WEHRMEDIZINISCH RELEVANTE PHÄNOMENE DER PRIMÄREN ARTERIELLEN HYPERTONIE: ATEMMUSTER, HÖHENTOLERANZ UND KARDIORESPIRATORISCHE REAKTIONEN AUF BLUTVERLUST UND SAUERSTOFFATMUNG

Three Phenomena of Primary Systemic Arterial Hypertension with Relevance for Military Medicine: Breathing Pattern, High Altitude Tolerance and Cardiorespiratory Responses to Blood Loss and Oxygen Breathing

Arnold Honig

WMM, 58. Jahrgang (Ausgabe 9/2014; S. 322-327)

Zusammenfassung:

Hintergrund: Eine primäre arterielle Hypertonie beeinflusst die Atemfunktion sowie das Verhalten des Organismus bei Hypoxie und bei Hämorrhagie. Bei hoher Prävelanz der primären arteriellen Hypertonie auch schon bei jungen Menschen sind die physiologischen Mechanismen, die diesen Phänomenen zu Grunde liegen, von wehrmedizinischer Relevanz.

Methode: Auswertung eigener Untersuchungen am Institut für Physiologie der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald und beim Flugmedizinischen Institut der Luftwaffe in Königsbrück; Literaturauswertung
Ergebnisse: Primär hypertensive junge Männer zeigen eine leichte Hyperventilation und höhere Atemraten.
Primär hypertensive junge Männer ertragen kurzzeitigen arteriellen Sauerstoffmangel (< 2 h) problemlos, können andauernde Höhenhypoxie (4200 m, > 2 - 3 h) aber weniger gut tolerieren (erhöhtes Hirnödem-Risiko).
Primär hypertensive Menschen und Tiere reagieren auf Blutverlust mit stärkerem Abfall ihres arteriellen Blutdruckes und verlieren bei Hämorrhagie auf Grund differenten Reagierens ihres Venensystems bis zum gleichen arteriellen Mitteldruck mehr Blut als normotensive Kontrollen.
Im Tierversuch stabilisiert Sauerstoffatmung nach Blutverlust Kreislauf und Atmung in Folge direkter Einwirkung auf das Gewebe durch (1.) Verengerung der Arteriolen, (2.) Venokonstriktion mit Entleerung der Blutspeicher und Verbesserung der Herzfüllung und (3.) Verstärkung der Lungenventilation infolge Beheben atmungsdepressiv wirkender Gehirnhypoxie.
Schlussfolgerungen: Die Registrierung von Blutdruck und Atemfrequenz im Schlaf könnte zur Früherkennung einer primären arteriellen Hypertonie beitragen. Das Risiko der Entwicklung eines Hirnödems unter andauernder Höhenhypoxie bei hypertensiven jungen Menschen sollte bei der Auswahl von Personal, z. B. für die Gebirgstruppe, berücksichtigt werden. Die im Tierexperiment nachgewiesenen Wirkungen der Sauerstoffatmung auf Gefäßsystem und Atmung bei Hämorrhagie eröffnen Möglichkeiten zur Optimierung der Sauerstoffbehandlung.
Schlüsselwörter: Atemmuster, Blutverlust, Hypoxietoleranz, Primäre Hypertonie, Sauerstoffatmung

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Summary

Background: Primary arterial hypertension has an impact on ventilation and body functions in case of hypoxia and hemorrhage. Due to high prevalence of primary arterial hypertension even in young people physiological mechanisms causing these phenomena are of relevance to military medicine.
Methods: Analysis of own research results achieved at the Institute for Physiology, Ernst-Moritz-Arndt University Greifswald and at the German Air Force Institute of Aviation Medicine Koenigsbrueck; literature studies.
Results: Young men with primary hypertension show mild hyperventilation and an increased breathing rate.
Young men with primary hypertension tolerate short-lasting arterial hypoxia (< 2 h) without problems, but seem to be prone to develop acute mountain sickness in long-lasting high-altitude hypoxia (4200 m, > 2 - 3 h).
As a reaction bloodloss, humans and animals with primary hypertension show a more rapid drop of arterial blood pressure than normotensive controls; due to diverse reaction of their venous system aiming to reach the same mean arterial pressure they loose more blood as the controls. In animal models, oxygen breathing after hemorrhage stabilizes circulation and respiration by (1.) constricting systemic arterioles, (2.) increasing the overall venous tonus mobilizing volume in the capacitance vessels and improving cardiac filling, and (3.) enforcing alveolar ventilation by reversing respiration-depressive cerebral hypoxia.
Conclusions: Registration of blood pressure and respiratory rate during sleep may contribute to the early detection of primary hypertension. The risk of brain edema in young hypertensive personnel during long lasting exposure to high altitude hypoxia should be considered during selection of e.g. mountaineers. The effects of oxygen breathing on circulation and respiration under hemorrhage conditions shown in animal experiments can open the way to optimize oxygen therapy.
Keywords: breathing pattern, hemorrhage, tolerance against hypoxia, primary hypertension, oxygen breathing

Einführung

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Die primäre arterielle Hypertonie ist die familiär gehäuft auftretende und ohne erkennbar andere verursachende Erkrankung (Niere oder Hormone) vorkommende Form des arteriellen Bluthochdrucks. Junge Männer1 aus solchen Familien haben in ihren ersten Lebensjahrzehnten einen nur wenig erhöhten arteriellen Blutdruck, zeigen aber in Tests bereits auffällig starke Reaktionen ihres Kreislaufes und ihres vegetativen Nervensystems. Sie sind nicht krank in dem Sinne, dass sie Beschwerden hätten und behandelt werden müssten. In der Regel sind sie voll arbeits- und damit wehrdienstfähig; sie sind in ihrer Jugend einfach ein eigener Reaktionstyp.
Die Erforschung der primären Hypertonie hat seit den sechziger Jahren große Fortschritte gemacht. Dieses hat auch eine erhebliche wehrmedizinische Bedeutung, denn es ist davon auszugehen, dass in den Industriestaaten etwa 20 % bis 30 % der Bevölkerung zumindest potenziell durch primären Hypertonus gefährdet sind. Dieser Anteil dürfte auch für die Angehörigen der Streitkräfte dieser Länder gegeben sein.
Von wehrmedizinischer Bedeutung dürfte auch sein, dass primär hypertensive junge Männer im anhaltenden arteriellen Sauerstoffmangel eine geringere Höhenfestigkeit haben [1] und akute Blutverluste weniger gut tolerieren als Normotensive [2, 3, 4]. Die Ursachen dieses differenten Reagierens sind heute zumindest teilweise pathophysiologisch erklärbar.

Das Atemmuster bei primärer Hypertonie - nutzbar in Früherkennung, Diagnostik und Phänotypisierung?

Für die wehrmedizinische Praxis hat die hier diskutierte Problematik nur dann einen Sinn, wenn es gelingt, junge Personen, die durch primäre Hypertonie gefährdet sind, mit vertretbarem Aufwand zu identifizieren. Dieses könnte wahrscheinlich leichter gelingen, wenn neben Herzrate und arteriellem Blutdruck gleichzeitig auch die Atemrate im Schlaf registriert werden würde. Dieser Vorschlag soll hier zunächst angesprochen werden.
Verglichen mit normotensiven Kontrollen, zeigen sowohl borderline- hypertensive junge Männer wie auch spontan hypertensive Ratten (SHR) des OKAMOTO- Stammes bereits in Normoxie höhere Atemminutenvolumina [3, 4, 5, 8, 9]. Diese Hyperventilation bei primärer Hypertonie geht teilweise auf einen stärkeren Atemantrieb zurück, der von den peripheren arteriellen Chemorezeptoren kommt, wie elektrophysiologisch belegt wurde [7]. Diese Hyperaktivität der arteriellen pO2- Sensoren kann aber für sich allein für die Hyperventilation der SHR nicht verantwortlich sein, denn eine Denervierung ihrer arteriellen Chemorezeptoren beseitigte die Atmungsunterschiede zwischen hypertensiven (SHR) und normotensiven Ratten des WISTAR- KYOTO- Stammes (WKY) nicht; die Differenzen wurden nach der Ausschaltung der O2-Messfühler sogar noch deutlicher [3]. Es müssen also sowohl die Atmungsreflexe als auch die Bildung des Atemmusters im Zentralnervensystem bei primärer Hypertonie anders verlaufen als in Normotonie.
Auch primär hypertensive junge Männer zeigen wie SHR-Ratten in Normoxie höhere Atemminutenvolumina [3, 4, 8, 9]. Das Verhältnis von Atemrate zu Atemzugvolumen ist bei den SHR-Ratten aber völlig verschieden von dem junger Männer. Die SHR-, verglichen mit WKY- Ratten, erreichen ihre Hyperventilation durch höhere Atemzugvolumina [3, 4], während hypertensive junge Männer dieses durch höhere Atemraten bewerkstelligen [5, 6,10].
Die Atemrate wird in der Diagnostik der primären Hypertonie in der Praxis bisher nicht angewandt, denn sie ist beim Menschen extrem von äußeren und psychischen Einflüssen abhängig und daher an wachen Personen nur mit kaum vertretbarem Aufwand zu bestimmen. Dieses Problem wäre aber leicht zu lösen, wenn man zeitgleich mit Herzrate und arteriellem Blutdruck auch die Atemrate mit tragbaren 24 h-Registriersystemen im Schlaf dokumentieren würde. Diese Erweiterung des 24 h-Monitorings um die Atemrate wäre wenig kostenaufwändig, würde bereits laufende Programme nicht stören und es ließen sich in akzeptabler Zeit große Probanden- bzw. Patientenzahlen untersuchen. Natürlich sollten BMI sowie Eigen- und Familienanamnese weiterhin beachtet werden.

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Die Abb. 1 stellt als Beispiel Daten aus drei unabhängig von einander durchgeführten Studien vor, in denen an primär hypertensiven jungen Männer statistisch gesichert höhere Atemraten beobachtet wurden. Diesen drei Publikationen ist gemeinsam, dass alle Messungen unter stressfreien Bedingungen und erst nach längerer Einstellzeit, im sog. „steady state“, erfolgten. Dieses „steady state“ war nötig, weil einmal der Einfluss der Atmung auf die Herzfrequenz untersucht werden sollte [10], weil zweitens bei Clearance-Untersuchungen der Nierenfunktion eine stabile Ausgangslage abgewartet werden musste [6] und weil drittens in Hypoxietests ein „steady state“ aller Parameter in Normoxie vor Beginn des O2-Mangels nötig war [5].
Bei der Nutzung der Atemrate im Zusammenhang mit primärer Hypertonie wäre aber zu beachten:

  1. Die Atemrate des Menschen nimmt mit zunehmendem Alter ab, so dass ein Vergleich von Normotensiven und Hypertensiven nur bei altersgleichen Gruppen zulässig ist.
  2. Renal hypertensive Tiere haben auch höhere Atemraten [11] und es ist nicht bekannt ist, ob das bei Menschen auch so ist. Auf Grund weiterer Parameter (Ödeme, Blut-, Urin- und Hormonstatus) sollte aber auch bei gleichem Atemmuster ein Differenzieren zwischen primärem und renalem Hochdruck problemlos möglich sein.
  3. Das Abgrenzen primär Hypertensiver von Patienten mit Schlafapnoe und Hochdruck wäre dagegen einfach, denn bei den primärer Hypertonie sind im Mittel höhere Atemraten mit normaler Streuung zu beobachten (Abb. 1), während bei Patienten mit Schlafapnoe und Hochdruck niedrige Atemraten mit großer Variabilität zu erwarten wären.

Die Einbeziehung des Atemmusters in die Diagnostik der Hypertonie hat das Potenzial einer weitergehenden Differenzierung und Verfeinerung der Diagnostik der Hypertonie. Zum einen erscheint es möglich, dass die 24 h-Registrierung von Blutdruck und Herzrate zusammen mit Atemrate hilfreich sein könnte bei der Identifikation von durch Schwangerschaftshochdruck gefährdeten jungen Frauen. Zum zweiten besteht die Möglichkeit, dass zwischen den im Hinblick auf die primäre Hypertonie diskutierten „Kandidaten-Genen“ und dem Atemmuster eine Beziehung besteht, denn die höhere Atemrate der primär hypertensiven jungen Männer ist sicher angeboren. Und schließlich könnten plötzliche Änderungen der Atemrate bei der gleichen Person in Zukunft eventuell in Bezug auf Diagnose und Prognose genutzt werden, zum Beispiel bei Infektionskrankheiten.

Die Hypoxietoleranz normotensiver und primär hypertensiver junger Männer in kurzer versus anhaltender arterieller Hypoxie2 

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Kurz anhaltende arterielle Hypoxie
Dazu durchgeführte Studien ergaben, dass nicht höhenadaptierte aber klinisch gesunde junge normotensive Männer und altersgleiche borderline-hypertensive Probanden eine weniger als zwei Stunden lang anhaltende arterielle Hypoxie bis herab zu einem alveolären O2-Partialdruck von etwa 40 mm Hg praktisch gleich gut tolerieren [5, 8, 9]. Nach unseren Ergebnissen besagt ein gut tolerierter kurzzeitiger Hypoxietest aber noch lange nicht, dass Langzeit–Hypoxie ebenfalls gut ertragen wird.

Geringere Höhenresistenz borderline-hypertensiver junger Männer in anhaltender hypobarer Hypoxie
In diesen Experimenten wurden klinisch gesunde normotensive junge Probanden und altersgleiche aber familiär mit primärer Hypertonie belastete Männer in einer Unterdruckkammer (U-Kammer) für acht Stunden einer simulierten Höhe von 4200 m ausgesetzt [1]. Alle Normotensiven tolerierten diese Höhe über die volle Zeit, aber nur 10 der ursprünglich 18 Hypertensiven beendeten die Höhenexposition nach Zeitplan [1]. Die ersten der hypertensiven Probanden verlangten, beginnend nach drei - vier Stunden in der Höhe, wegen Kopfschmerzen, Sehstörungen und Übelkeit - alles Symptome einer zentralnervösen Irritation - die U-Kammer zu verlassen. Dem dann erfolgenden Ausschleusen ging immer ein Versiegen der Urinexkretion voraus (Abb. 2).

Die Reaktionen von Atmung, Kreislauf, Nierenfunktion und der Hormonsysteme bei den beiden Gruppen waren qualitativ ähnlich und quantitativ gering unterschiedlich. Diese Differenzen waren aber so wenig gravierend, dass sie die geringere Höhenfestigkeit der Hypertoniker nicht erklärten. Diese Befunde [1] lassen sich am ehesten mit der Annahme deuten, dass es bei den hypertensiven jungen Männern, mit einer individuell differenten Latenz von mehr als 2 Stunden, zur langsamen Ausbildung eines Hirnödems kam.
Es ist bekannt, dass die Arteriolen hypertensiver Ratten bei Abnahmen des Gewebe-pO2 ausgeprägter dilatieren als die normotensiver Stämme [12]. Es ist daher vorstellbar, dass die Höhenhypoxie bei den borderline-hypertensiven Probanden eine stärkere Dilatation der Arteriolen im Gehirn ausgelöste als bei den normotensiven und so durch Anstieg des Blutdruckes in den Kapillaren eine vermehrte Auswärtsfiltration bewirkte. Im Höheneinsatz könnte eventuell schon eine einfache Retinainspektion mit dem Augenspiegel darüber Aufklärung bringen. Netzhautgefäße sind entwicklungsgeschichtlich wie Hirnarterien, reagieren wie diese und dilatieren in der Höhe [13].
Für eine rezente Monographie mit sehr wertvollen Literaturangaben zu „normale und auffällige Höhenanpassung des Menschen“ siehe auch Swenson und Bärtsch [14].

Blutverlust, Sauerstoffatmung und primäre Hypertonie

Kreislaufreaktionen
Aus ethischen Gründen sind Experimente zu den Wirkungen von realer Hämorrhagie mit nachfolgender Hyperoxie am Menschen nicht möglich. Dieses Thema muss daher hier an Hand von Daten besprochen werden, die an Ratten mit der sog. „Technik des hämorrhagischen Schocks“ erarbeitet worden sind [3, 4].
Die günstigen Wirkungen einer O2-Atmung nach akuter Hämorrhagie sind fast immer gegeben. Die diesen Effekten zugrunde liegenden Wirkungsmechanismen der Hyperoxie sind aber weiter Gegenstand der Diskussion [2, 3, 4, 15, 16, 17]. So wird z. B. berichtet, dass Sauerstoffatmung nach Blutverlusten auch dann günstig wirken kann, wenn im arteriellen Blut gar keine Hypoxie besteht [16]. Es ist auch gut belegt, dass Menschen und Tiere mit primärer Hypertonie bei einem akuten Blutverlust ähnlichen Ausmaßes einen stärkeren Abfall ihres arteriellen Blutdruckes zeigen und bei Ausbluten auf gleichen arteriellen Mitteldruck einen größeren Blutverlust erleiden [2, 3, 4].
Abb. 3 stellt Experimente [3, 4] vor, in denen an normotensiven (WKY) und an hypertensiven Ratten (SHR) in Vollnarkose im Verlaufe von zehn - zwölf min gleichmäßig Blut entnommen wurde, bis ihr arterieller Mitteldruck auf etwa 60 mm Hg gesunken war. Der Abfall der Herzrate dabei ist ein an Ratten in Vollnarkose regelmäßig beobachtetes, aber nicht geklärtes Phänomen [3, 4]. Diese „Blutungsbradykardie“ könnte zum Ziel haben, auch bei reduziertem venösen Rückfluss eine ausreichende Ventrikelfüllung und so ein adäquates Schlagvolumen zu sichern. Der mittlere zentrale Venendruck (ZVD) zeigte nur geringe Änderungen, erklärbar mit der Annahme, dass die Auswirkungen der Hämorrhagie auf den ZVD durch Zunahme des Wandtonus der großen Venen ausgeglichen wurden.
Für die hier behandelte Fragestellung am wichtigsten ist das Verhalten des mittleren arteriellen Blutdruckes. Abb. 3 zeigt, dass ein gleicher Blutverlust von ca. 0,6 ml/100 g Körpermasse den arteriellen Mitteldruck bei den hypertensiven Ratten um ~ 110 mm Hg absenkte, bei den normotensiven Tieren aber nur um ~ 50 mm Hg. Den normotensiven Ratten mussten etwa 0,6 % der Körpermasse an Blut entnommen werden, um ihren arteriellen Druck auf ca. 60 mm Hg zu senken; bei den SHR-Ratten wurde das erst bei einem Blutverlust von etwa 1,1 % erreicht. Die Ursache für dieses differente Reagieren des arteriellen Mitteldruckes bzw. der Blutungsvolumina dürfte eine durch die Hämorrhagie induzierte stärkere Konstriktion der großen Venen bei den SHR-Ratten sein. Dieses wiederum könnte sowohl aus erhöhter Reaktivität (Kontraktionsfähigkeit) der venösen Muskelzellen wie auch stärkeren Reaktionen vasokonstriktorisch wirkender Gefäßnerven und Hormone bei den hypertensiven Tieren resultieren.

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Nach der in Abb. 3 gezeigten Blutdruckabsenkung bei den narkotisierten Tieren auf ca. 60 mm Hg verblieben diese für etwa 40 min bei diesem Mitteldruck und atmeten Raumluft. Danach wurde ihnen ein Gemisch von 60 % O2 in N2 zur Ventilation angeboten (Abb. 4). Das führte zu einer Abnahme der Herzrate (HR) bei den hypertensiven, nicht aber bei den normotensiven Ratten - eine Reaktion mit ungeklärter Ursache. Bei durch Blutentzug konstant gehaltenem arteriellem Blutdruck reagierte der mittlere zentrale Venendruck (ZVD) nur wenig.
In Abb. 4 ist die Reaktion des venösen Systems besonders auffällig: Die Hyperoxie löste bei beiden Rattenstämmen eine Zunahme des Venentonus aus. Messbar wurde das als „venöser- Volumen- Ausstoß“ (V-V-AS, siehe Abb. 4).
Aus diesen V-V-AS- Reaktionen ergibt sich, dass Sauerstoff in pharmakologischen Konzentrationen, nicht nur die Muskelzellen von Arteriolen – was schon lange bekannt ist [12]- sondern auch die der Venen [3, 4] zur Kontraktion bringt. Diese „hyperoxische Venokonstriktion“ fällt bei hypertensiven SHR-Tieren deutlich schwächer aus als bei den normotensiven WKYRatten [3, 4]. Das könnte daran liegen, dass die SHR-Ratten vor der O2-Atmung bereits einen höheren Venentonus hatten als die WKY-Tiere, so dass sie wegen ihrer geringeren „Konstriktionsreserve“ auf die Hyperoxie nur noch limitiert reagieren konnten. Dass bei primärer Hypertonie der Venentonus in Normoxie höher ist, ist seit langem belegt [18]. Aber auch differente Antworten des Nerven- und Hormonsystems der beiden Tierstämme auf die Hyperoxie könnten für das unterschiedliche Reagieren der Venen der SHR- versus WKY-Ratten verantwortlich sein.

Reaktionen der Lungenventilation
Nur in den ersten zwei Minuten der Atmung von 60 % O2 in N2 kam es infolge hyperoxischer Inaktivierung der arteriellen Chemorezeptoren sowohl bei den hypertensiven wie auch bei den normotensiven Ratten zu einer Abnahme von Atemrate und Atemminutenvolumen (Abb. 5). Danach verstärkte sich die Lungenventilation aber wieder, so dass sie dann sogar über den Werten vor der Hyperoxie lag (Abb. 5).
Diese zunächst paradox erscheinende „hyperoxische Atemstimulation“ ist wiederholt beschrieben worden [3, 4, 19, 20]. Sie wurde offenbar immer dann beobachtet, wenn vor der O2-Atmung eine Beeinträchtigung der Gesamtdurchblutung oder der Durchblutungsverteilung innerhalb des Gehirns bestand. Dieses könnte zu Funktionsstörungen der für die Atemsteuerung wichtigen Hirnstrukturen geführt haben. Hyperoxie könnte so über eine Normalisierung des O2-abhängigen Energieumsatzes in den für die Atemregulation zuständigen Hirnteilen eine Forcierung der Ventilation auch in hypotensiver Hämorrhagie bewirken können.

Offene Fragen
Die bisherigen Erkenntisse zu den physiologischen Mechanismen von O2-Atmung bei Blutverlust werfen eine Reihe von Fragen für zukünftige Forschungsprojekte auf:

  1. Sauerstoffatmung könnte Gefahren mit sich bringen, wenn nach einem Blutverlust die O2-Ventilation gestartet wird, bevor die Blutung gestoppt ist. Sollte Sauerstoff auch beim Menschen die Venen tonisieren, was angenommen werden muss, dann würde bei noch weiterlaufender Hämorrhagie die Hyperoxie die venösen Blutspeicher entleeren und das Blut zum Herzen führen. Das Herz würde dieses zusätzlich mobilisierte Blut in den Arterienbaum treiben von wo aus es dann über die (noch) offene Wunde verloren ginge. Tierexperimente zeigten tatsächlich, dass bei kontinuierlicher Hämorrhagie die O2-Atmung den Blutverlust steigert, dabei gleichzeitig aber auch die Überlebenszeit erhöht [17].
  2. Zur Zeit gibt es offenbar auch keine oder nur schwer zugängliche Publikationen zu der Frage, wie sich die Atmung hyperoxischer Gemische auf das Venensystems in der Schwerelosigkeit auswirkt. Experimente im Wasserbecken würden diese Fragestellung nicht klären können, da der Wasserdruck auf die Hautvenen die Ausgangslage des Venensystems bereits in Normoxie „verstellen“ würde.
  3. Es ist bis heute nach Kenntnis des Autors auch noch nicht untersucht, wie sich eine maschinelle Beatmung relaxierter Menschen auf die durch O2-Atmung induzierten Venenreaktionen auswirkt.
  4. Eine andere noch nicht untersuchte Fragestellung ist, wie Kreislauf und Lungenatmung diabetischer Menschen und Tiere auf Blutverlust mit nachfolgender O2-Atmung reagieren. 

Schlussbemerkung und Ausblick auf zukünftige klinische Anwendungen

Die Registrierung der Atemrate zusammen mit den Blutdrücken und der Herzfrequenz im Schlaf mit 24 h-Registriersystemen sollte bei vertretbarem technischem und finanziellem Aufwand auch schon bei Kindern möglich sein. Zusammen mit BMI und Familienanamnese könnte das zur Früherkennung und Phänotypisierung der durch primäre Hypertonie gefährdeten Jugendlichen beitragen. Hier besteht das Problem, dass – wie oben erwähnt – die Datenlage zur Altersabhängigkeit der Atemrate noch unklar ist.
Die Registrierung der Atemrate zusammen mit den Blutdrücken und der Herzfrequenz im Schlaf mit 24 h-Registriersystemen könnte schon in Normoxie und noch vor einem geplanten Höheneinsatz Hinweise zur zu erwartenden Höhentoleranz der Teilnehmer bringen. In der Höhe selbst und unter realen Einsatzbedingungen könnte eine Dokumentation der Retinadurchblutung mit dem Augenspiegel eventuelle Unterschiede zwischen Personen mit großer und denen mit geringer Höhentoleranz erkennbar und in der Zukunft nutzbar werden lassen.
Die im Tierexperiment überzeugend nachgewiesene venokonstriktorische Wirkung der Sauerstoffatmung [3, 4] müsste zunächst an Menschen experimentell überprüft werden. Das wäre bei Registrierung der Unterschenkel-Blutfüllung (Plethysmographie) in Kipptischexperimenten mit und ohne Hyperoxieatmung gefahrlos und ethisch vertretbar zu realisieren. Dabei könnte dann auch gleich festgestellt werden, wie lange die im Tierexperiment nach der Hyperoxie noch weiter anhaltende Venokonstriktion [3, 4] auch beim Menschen nach dem Absetzten der Sauerstoffatmung weiter besteht. Das wäre z. B. in Katastrophenlagen von Bedeutung, in denen nicht ausreichend O2- Geräte zur Verfügung stehen, aber möglichst viele Patienten transportfähig gemacht werden sollen.
Die durch Sauerstoffatmung induzierte Venokonstriktion müsste sich eigentlich auch auf das Leistungsvermögen von Kampfund Sportpiloten im Kurvenflug (Dogfight) auswirken. Das zu testen sollte bei geringem zusätzlichem Aufwand möglich sein, wenn bei nichtinvasiver Registrierung möglichst vieler Atmungs- und Kreislaufparameter der Zentrifugentest einmal bei Luft- und dann ein zweites mal unter O2-Atmung durchgeführt werden würde.

1Die dieser Arbeit zu Grunde liegenden Untersuchungen wurden ausschließlich bei jungen Männern durchgeführt.

2Die diesem Kapitel zu Grunde liegenden Daten wurden in einem vom Bundesministerium der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland geförderten Verbundforschungsvorhaben am Flugmedizinischen Institut der Luftwaffe erhoben.

Literaturverzeichnis:

  1. Ledderhos C, Pongratz H, Exner J et al: Reduced tolerance of simulated altitude (4200 m) in young men with borderline hypertension. Aviat. Space Environm. Med. 2002; 73: 1063-1065.
  2. Radisavljevic Z: Hypertension- induced dysfunction of circulation in hemorrhagic shock. Am. J. Hypertension 1995; 8: 761-767.
  3. Bettin D, Gross C, Hertting et al.: Different cardiorespiratory responses to hemorrhage and hyperoxia in normotensive (WKY) and spontaneously hypertensive (SHR) rats. Acta Physiol. Hung. 2004; 91: 23-48.
  4. Honig A: Blutverlust, Sauerstoffatmung und primäre Hypertonie. Notfall- und Rettungsmedizin 2004; 7: 391-398.
  5. Honig A, Pongratz H, Muza et al.: Cardiorespiratory responses to normobaric arterial hypoxia in normotensive and primary hypertensive young men. Dtsch. Med. Wschr. 2000, 125/suppl.3, 48.
  6. Wiersbitzky M, Schuster R, Balke F et al.: The reactions of renal excretory function in normotensive and essentially hypertensive men in response to oral administration of almitrine bismesylate. In: Acker H, Trzebski A, O´Regan RG (eds): Chemoreceptors and chemoreceptor reflexes. New York: Plenum Press 1990, 417-423.
  7. Fukuda Y, Sato A, Trzebski A: Carotid chemoreceptor discharge responses to hypoxia and hypercapnia in normotensive and spontaneously hypertensive rats. J. Autonom. Nerv. Syst. 1987; 19: 1-11.
  8. Pongratz H, Ledderhos C, Muza S et al.: Verhalten von Atemminutenvolumen und arterieller Sauerstoffsättigung bei primär hypertensiven und normotensiven jungen Männern in akuter normobarer hypokapnischer und isokapnischer Hypoxie. Wehrmed. Mschr. 2001; 45: 193-196.
  9. Trzebski A, Tafil M, Zoltowski M et al.: Increased sensitivity of the arterial chemoreceptor drive in young men with mild hypertension. Cardiovasc. Res. 1982; 16: 161-172.
  10. Drummond PD: Parasympathetic cardiac control in mild hypertension. J Hypertens 1990; 8: 383-387.
  11. Angell-James JE, Clarke JA, Daly MD et al.: Respiratory and cardiovascular responses to hyperoxia, hypoxia and hypercapnia in the renal hypertensive rabbit: role of carotid body chemoreceptors. J. Hypertens. 1985; 3: 213-223.
  12. Lombard JH, Stekiel WJ: Active tone and arteriolar responses to increased oxygen availability in the mesoappendix of spontaneously hypertensive rats. Microcirc. Endoth. Lymphatics 1988; 5: 339-353.
  13. Frayser R, Houston CS, Gray GW et al.: The response of the retinal circulation to altitude. Arch. Intern. Med. 1971; 127: 708-711.
  14. Swenson ER, Bärtsch P (eds.): High Altitude: Human Adaptation to Hypoxia. Springer Science + Business Media New York, 2014.
  15. Adir Y, Bitterman N, Katz E et al.: Salutary consequences of oxygen therapy on the long- term outcome of hemorrhagic shock in awake unrestrained rats. Undersea Hyperbaric Med. 1995; 22: 23- 30.
  16. Hoitz, J: Präklinische Versorgung des Polytraumas im Notarztund BAT-Dienst. Wehrmed. Monatsschrift 2007; 51: 170-174.
  17. Sukhotnik I, Krausz MM., Brod V et al. : Divergent effects of oxygen therapy in four models of uncontrolled hemorrhagic shock. Shock 2000; 18: 277-284.
  18. Safar ME, London GM: Venous system in essential hypertension. Clin. Sci. 1985; 69: 497-504
  19. Daristotle L, Engwall MJ, Niu W et al. : Ventilatory effects and interactions with change in PaO2 in awake goats. J. Appl. Physiol. 1991; 71: 1254-1260.
  20. Olson EB, Vidruk EH, Dempsey JA: Carotid body excision significantly changes ventilatory control in awake rats. J. Appl. Physiol. 1988; 64: 666-671.

Abb. 1: Die Mittelwerte mit ihren mittleren Fehlern der systolischen Blutdrücke (Psys) sowie der Atemraten (AR) bei normotensiven (blau) und primär hypertensiven (rot) jungen Männern; die zwischen den beiden Gruppen festgestellten Unterschiede waren für beide Parameter mit p<0,05 signifikant. Nach Daten aus drei unabhängig voneinander durchgeführten Studien [5, 6, 10]

Abb. 2: Die Beziehung zwischen der Zeit des letzten spontanen Harnlassens und der Zeit des Ausschleusens der Probanden aus der Unterdruckkammer; Studie an 15 normotensiven (blau) und 18 primär hypertensiven (rot) jungen Männern; Beginn der Höhenexposition um 12:00 h; nach Daten der Arbeitsgruppe „Humanphysiologie“ der Universität Greifswald und des Flugmedizinischen Instituts der Luftwaffe [1]

Abb. 3: Das Verhalten der Herzrate (HR), des mittleren zentralen Venendruckes (ZVD) und des arteriellen Mitteldruckes (MAD) bei kontinuierlicher Blutabnahme an hypertensiven (SHR, n = 13, rot) und normotensiven (WKY, n = 15, blau) Ratten * = Differenz zur Ausgangslage vor den Blutabnahmen signifikant (p<0,05). x = Differenz zwischen den beiden Gruppen signifikant (p<0,05); nach Daten der Arbeitsgruppe „Blutverlust und Sauerstoffatmung“ der Universität Greifswald [3, 4]

Abb. 4: Das Verhalten von Herzrate (HR), zentralem Venendruck (ZVD), arteriellem Mitteldruck (MAD) sowie venösem Volumenausstoß (V-V-AS) von Ratten in Vollnarkose bei Atmung von Luft (21 %) oder 60 % O2 in N2; die Tiere befanden sich in anhaltender hämorrhagischer Hypotension (~ 60 mm Hg); rote Symbole = spontan hypertensive Ratten (SHR, n = 13); blaue Symbole = normotensive Tiere (WKY, n = 15); * = Differenz zur Ausgangslage vor der Sauerstoffatmung signifikant (p<0,05); x = Differenz zwischen den beiden Tiergruppen signifikant (p<0,05); nach Daten der Arbeitsgruppe „Blutverlust und Sauerstoffatmung“ der Universität Greifswald [3, 4]

Abb. 5: Das Verhalten von Atemrate (AR), Atemzugvolumen (Vt) und Atemminutenvolumen (VE) von Ratten in Vollnarkose bei Atmung von Luft (21 %) oder 60 % O2 in N2; die Tiere befanden sich in anhaltender hämorrhagischer Hypotension (~ 60 mm Hg); rote Symbole = spontan hypertensive Ratten (SHR, n = 13); blaue Symbole = normotensive Tiere (WKY, n = 15); * = Differenz zur Ausgangslage vor der Sauerstoffatmung signifikant (p<0,05); x = Differenz zwischen den beiden Tiergruppen signifikant (p<0,05); nach Daten der Arbeitsgruppe „Blutverlust und Sauerstoffatmung“der Universität Greifswald [3, 4]

 

 

 

Datum: 25.09.2014

Quelle: Wehrmedizinische Monatsschrift 2014/9

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